PRINZIPIEN EINES EUROP?ISCHEN VERTRAGSRECHTS: LIBERAL, MARKTFUNKTIONAL, SOLIDARISCH ODER ...?
Brigitta Lurger1
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Principles of a European Contract Law: liberal, market-functional, social (\
Abstract
The project of the unification of European contract law involves a number of crucial questions concerning the principal role and function of contract law in our present European societies. These questions have neither been answered nor dealt with sufficiently in the course of the ongoing preparations for the unification of contract law in Europe. One of the most important challenges to our traditional conceptions of contract law is presented by the need to incorporate into the general rules of contract law the meanwhile huge number of contract law norms of
protective character, which can be found in various national consumer protection or other statutes as well as in EC directives and EC-block exemption regulations. The author makes detailed suggestions for the incorporation of rights of information, rights of revocation and the control of the contractual fairness into the general rules of contract law. From the new body of protective contract law rules and the open standards of general contract law (good faith, Treu und Glauben, unconscionability, gute Sitten, etc.) the principle of solidarity seems to emerge as a
counterprinciple to the principle of freedom of contract. This principle is not restricted to the protection of weaker parties or to the good faith standard. It includes duties of cooperation and loyality and it also applies to general default rules like the rules of breach of contract. The crucial question of where solidarity must end and the freedom to the egotistic pursuit of a party's own interests has to apply can be anwered only in parts by the theories of \economic analysis of law. More appropriate concepts like the theory of a \Collins deal with the tasks of contract law on a more general basis by referring to the creation of a desirable society or to valuable ways of life. These latter theories are apt to deal with issues of solidarity, corrective and distributive justice, and the whole spectrum of societal interests implied in contract law.
1
) Dr.iur. (Universit?t Graz), LL.M. (Harvard), Universit?tsassistentin an der Universit?t Graz, derzeit APART-Stipendiatin der ?sterreichischen Akademie der Wissenschaften am Max-Planck-Institut für ausl?ndisches und internationales Privatrecht in Hamburg.
Inhalt
Einleitung
1. Die Kluft zwischen dem allgemeinen Vertragsrecht und dem zwingenden sondergesetzlichen Recht zum Schutz einer Vertragspartei und der empfohlene Brückenschlag 2. Das Ph?nomen der sondergesetzlichen Entwicklungen im überblick
2.1 Informationspflichten, Werbe- und Verkaufspraktiken 2.2 Widerrufsrechte
2.3 Inhaltliche Eingriffe in den Vertrag
3. Die Vereinbarkeit mit dem allgemeinen Vertragsrecht 4. Die Entwicklung allgemeiner Prinzipien
5. Die Geltung des Prinzips der vertraglichen Solidarit?t im Recht der Leistungsst?rungen 6. Offene Fragen 7. L?sung der offenen Fragen mit dem Ordoliberalismus?
8. Das Markt- und Vertragsmodell von Collins und die distributive Gerechtigkeit 9. Fazit
Einleitung
Das Projekt der Vereinheitlichung des europ?ischen Vertragsrechts wirft eine Vielzahl von Fragen auf, von welchen hier nur ein kleiner Ausschnitt zur Sprache kommen soll. Ausgespart bleiben vor allem die Fragen, wer, wann, wie und auf welcher Kompetenzgrundlage das Vertragsrecht vereinheitlichen soll oder wird.
Ich werde zun?chst kurz einige Gedankeng?nge anreissen, die sich im Zusammenhang mit dem relativ jungen Ph?nomen der sondergesetzlichen und punktuellen Entwicklung von Vertragsrecht mit Schutzcharakter ergeben haben. Danach werde ich zu einer Reihe von Fragen kommen, die in diesem Zusammenhang beantwortet werden müssen. Ich werde den Ordoliberalismus zu Rate ziehen, danach das Modell des \
Problematik der Rolle der distributiven Gerechtigkeit im Vertragsrecht kurz eingegangen werden.
Die folgenden Ausführungen sind aus der Erkenntnis entstanden, da? insbesondere die Aufgabe der Einbeziehung von vertragsrechtlichen Bestimmungen, die Schutzcharakter besitzen, in ein allgemeines europ?isches Vertragsrecht viele grunds?tzliche Ordnungsfragen aufwirft. Diese Fragen haben bisher in den Vorbereitungsarbeiten zu einem europ?ischen Vertragsrecht kaum Beachtung gefunden. Mit dem vorliegenden Artikel sollen diese Fragen aufgezeigt sowie ein Ansto? zu ihrer Diskussion und L?sung geliefert werden.
1. Die Kluft zwischen dem allgemeinen Vertragsrecht und dem zwingenden sondergesetzlichen Recht zum Schutz einer Vertragspartei und der empfohlene Brückenschlag2
2
) Siehe zu dieser Problematik ausführlich: B. Lurger, Vertragliche Solidarit?t - Entwicklungschance für das allgemeine Vertragsrecht in ?sterreich und in der Europ?ischen Union (Baden-Baden: Nomos, 1998).
In den Rechtsordnungen der EU-Mitgliedstaaten entwickelt sich das Vertragsrecht schon seit mehreren Jahrzehnten auf mindestens zwei Schienen: (1) als allgemeines Vertragsrecht, das oft auf ?lteren oder sehr alten Zivilrechtskodifikationen oder auf dem ebenfalls mit langer Tradition behafteten common law der britischen und irischen Gerichte beruht - und (2) als in vielen
einzelnen Gesetzen meist viel neueren Datums verstreutes Vertragsrecht. Aus letzerem Bereich leuchtet neben den vielen Eingriffen in das Vertragsrecht, die überwiegend ?ffentlichen oder überindividuellen Interessen dienen, jene gro?e Gruppe von zwingenden Vertragsregeln heraus, die überwiegend dem Schutz der einen schw?cheren Partei eines Vertrages dienen sollen. Von vertraglichem Mieterschutz und Arbeitnehmerschutz soll hier nicht die Rede sein - wohl aber von jener gerade in den letzten Jahren stark angewachsenen Zahl von vertragsrechtlichen Regeln, die Verbraucher oder die Kunden bestimmter Anbieter schützen.
Vertragsrechtlicher Kunden- oder Verbraucherschutz wurde in den Kinderjahren seiner Entwicklung noch als seltene Ausnahme zu den allgemeinen Regeln des Vertragsrechts verstanden. Mittlerweile ist er in vermutlich allen Mitgliedstaaten eher die Regel als die Ausnahme und mu? wohl neben dem traditionellen allgemeinen Vertragrecht als eine zus?tzliche Quelle zivilrechtlicher Prinzipien betrachtet werden.
Die meist sondergesetzliche Natur des punktuellen Vertragsrechts mit Schutzcharakter deutet das Problem bereits an: Das neuere Schutzrecht entwickelt sich NEBEN dem gleichbleibenden allgemeinen Vertragsrecht, um dieses herum und über dieses hinaus. Da? es wünschenswert ist, eine st?rkere Verbindung zwischen beiden Bereichen aufzubauen, dafür sprechen die folgenden Argumente:
1) der zunehmende Bedeutungsverlust des allgemeinen Vertragsrechts und die Probleme von punktuellen Einzelgesetzen: aktuelle Entwicklungen wurden ins Sondervertragsrecht verbannt, dem allgemeinen Vertragsrecht kommt nur eine Restkompetenz zu. Das Sondervertragsrecht selbst wird immer unübersichtlicher und leidet an dem Mangel an dogmatischer Durchdringung, Koh?renz und Systematik.
2) Gerechtigkeitsdefizite durch den engen traditionellen Verbraucherbegriff und den punktuellen Ansatz der einzelgesetzlichen Schutzregeln: Hier finden sich Ungleichbehandlungen ohne sachliche Rechtfertigung.
3) Das klassische liberale Vertragsmodell, falls es noch immer das allgemeine Vertragsrecht von mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen beherrscht, bedarf dringend der Erg?nzung und Modifizierung durch neue Prinzipien3.
4) die internationale Tendenz, den Schutzgedanken in das allgemeine Vertragsrecht aufzunehmen: Niederlande (NBW), die skandinavischen Staaten, die European Principles of Contract Law der Lando-Kommission (EuPr)4, die UNIDROIT Principles of International Commercial Contracts 3
) Siehe dazu jüngst beispielsweise: C. Thibierge-Guelfucci, 'Libres propos sur la transformation du droit des contrats', Revue trimestrielle de droit civil 96 (1997) 2, 357 ff.
4
) Die \Commission on European Contract Law\ndete private Vereinigung, deren Vorsitz seit damals der Kopenhagener Professor Ole Lando führt. Die Mitglieder, die keine offiziellen Vertreter ihrer Heimatstaaten sind, sind vorwiegend Professoren aus allen EG/EU-Mitgliedstaaten. Die einzige formelle Verbindung zu den Organen der EU bestand lange Zeit über in der finanziellen Unterstützung durch die Europ?ische Kommission, die dann zeitweilig vom Europ?ischen Parlament übernommen wurde. Siehe: O.
(UniPr)5, das Treu-und-Glaubens-Prinzip (good faith) als Bestandteil der lex mercatoria des internationalen Handels.
Was hat das alles mit einem einheitlichen EG- oder EU-Vertragsrecht zu tun? 1.a. Gegenw?rtig besteht einheitliches bzw. angeglichenes EG-Vertragsrecht nur an einigen Stellen: Es handelt sich ausschlie?lich um zwingendes Vertragsrecht, das dem Schutz einer schw?cheren Partei dient. Quellen sind die EG-Verbraucherschutz-Richtlinien, aber auch andere wie etwa die Versicherungs-Richtlinien, die Handelsvertreter-Richtlinie, die Richtlinie über grenzüberschreitende überweisungen. Zu denken ist weiters an Bestimmungen mit vertraglichem Schutzcharakter in den Gruppenfreistellungs-Verordnungen.
b. Will man ein allgemeines EG-Vertragsrecht formulieren, wird man über dieses bereits bestehende EG-Vertragsrecht nicht hinwegsehen k?nnen.
2. Zudem dringen einige der bestehenden Richtlinien oder Richtlinien-Vorschl?ge trotz ihrer Beschr?nkung auf den Verbraucherschutz bereits heute in Kerngebiete des allgemeinen Vertragsrechts vor: z.B. die Klausel-Richtlinie, der Richtlinien-Vorschlag über Verbrauchsgütergarantien. a. Sie führen zu einer nicht unproblematischen Aufspaltung des allgemeinen Vertragsrechts der Mitgliedstaaten bzw. werden durch die divergierenden allgemeinen Vertragsrechte der
Mitgliedstaaten, von denen sie oft nicht zu isolieren sind (Stichwort: Klauselkontrolle), in ihrer Wirkung behindert.
b. Weiters ist auch aus EG-rechtlicher Sicht fraglich, ob die erw?hnten Bestimmungen, wenn sie für die Verkehrsf?rderung auf dem Binnenmarkt wirklich so notwendig sind (Stichwort: Kompetenz Art 100a EGV = Art 95 EGV nF), auf Verbrauchervertr?ge beschr?nkt bleiben sollten, da ?hnliche Schutzbedürfnisse bzw. Problemlagen auch für den Rechtsgesch?ftsverkehr zwischen Unternehmern bestehen.
Mit einer kodifikatorischen Zusammenfassung des verstreuten bestehenden EG-Verbraucher- Lando/H. Beale (eds.), Principles of European Contract Law. Part I: Performance, Non-performance and Remedies (Dordrecht/Boston/London: Martinus Nijhoff Publishers, 1995); Internet-Adresse
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) Principles of International Commercial Contracts, herausgegeben von das International Institute for the Unification of Private Law (UNIDROIT) in Rom (1994). Die UniP wurden unter Federführung der UNIDROIT von einer Arbeitsgruppe unter Vorsitz von Prof. Michael Joachim Bonell (Rom) erarbeitet. Die Mitglieder der Arbeitsgruppe sind überwiegend Universit?tsprofessoren. Sie stammen aus allen Erdteilen bzw. bedeutendsten Rechtskreisen der Erde und sind keine offiziellen Vertreter ihrer Heimatstaaten. Die UniP, die umfangreiche Kommentare zu den einzelnen Artikeln enthalten, haben keinen verbindlichen Charakter, sondern sollen für die Parteien des internationalen Wirtschaftsverkehrs w?hlbar sein, sollen als lex mercatoria und zur Lückenfüllung und Auslegungshilfe anderer Normsysteme (z.B. des UNKR) dienen. Die Verfasser erhoffen sich auch Modellcharakter für künftige nationale und internationale Rechtssetzungsakte. Siehe: UNIDROIT, Principles of International Commercial Contracts (Rom: UNIDROIT, 1994); M.J. Bonell, An International Restatement of Contract Law (Irvington, NY, Transnational Juris Publications Inc., 1994).
Sowohl die EuPr (Anwendungsbereich: alle Vertr?ge) als auch die UniPr (Anwendungsbereich: nur
grenzüberschreitende Vertr?ge zwischen professionellen Partnern) enthalten eine Reihe von Bestimmungen mit Schutzcharakter für eine der Parteien. Siehe dazu ausführlich: B. Lurger, Vertragliche Solidarit?t - Entwicklungschance für das allgemeine Vertragsrecht in ?sterreich und in der Europ?ischen Union (Baden-Baden: Nomos, 1998) 109 ff., 125 ff.
und sonstigen Schutzrechts kann daher nicht mehr das Auslangen gefunden werden. Die Problematik des allgemeinen Vertragsrechts mu? gel?st werden.
2. Das Ph?nomen der sondergesetzlichen Entwicklungen im überblick
Wenn man (aus Raumgründen) von den vielf?ltigen Fragen um Instrumente und Verfahren der Rechtsdurchsetzung sowie der Beweislastverteilung absieht, kann man die Schutzma?nahmen in drei gro?e Bereiche unterteilen: Informationspflichten, Widerrufsrechte und Eingriffe in den Vertragsinhalt.
2.1 Informationspflichten, Werbe- und Verkaufspraktiken
Auch in relativ progressiven Verbraucherschutzsystemen, die stark auf inhaltliche Eingriffe in bereits abgeschlossene Vertr?ge setzen, hat der Schutz der Informationslage der schw?cheren Partei (Information, Aufkl?rung, Beratung) weiterhin gro?e Bedeutung und wird best?ndig ausgebaut. Die Informationsproblematik ist mit der Problematik unzul?ssiger bzw. gef?hrdender Werbe- und Verkaufspraktiken eng verbunden. In den meisten Rechtsordnungen gibt es eine Flut von vorvertraglichen Informationspflichten, neuerdings teilweise in Form von zwingenden Inhalten der Vertragsurkunde. Neu sind auch die Tendenz, deren Einhaltung durch Widerrufsrechte des potentiellen Informationsempf?ngers abzusichern, und die Kopplung des Inhalts von Werbeaussagen an die Gew?hrleistungshaftung. Auch die Zahl an Informationen, die w?hrend oder nach der Leistungserbringung zu erteilen sind nimmt zu. Alle diese Tendenzen finden sich auch in EG-Richtlinien.
2.2 Widerrufsrechte
Auch die Widerrufsrechte boomen. Allein im ?sterreichischen Recht gibt es weit über 20 sondergesetzliche Widerrufsbestimmungen, die dem Schutz schw?cherer Vertragsparteien dienen6. Diese Widerrufsrechte k?nnen nach ihrem Zweck in folgende Kategorien eingeteilt werden: Abschlu?bezogene Widerrufsrechte - dazu z?hlen der Situationswiderruf (Hauptfall: Haustürgesch?ft), der Abwesenheitswiderruf (Stichwort: Fernabsatz), der generelle Typenwiderruf (komplizierte, gewichtige, langfristige Vertr?ge), der Informationswiderruf (ebenso; bei nicht rechtzeitigem Informationserhalt) und der Irrtumswiderruf (vom anderen Partner verla?te Zukunftsirrtümer).
Abwicklungsbezogene Widerrufsrechte - dazu z?hlen der Widerruf wegen Vertrags?nderung sowie der kündigungs?hnliche Widerruf.
Diese zweckorientierte Typisierung der Widerrufsrechte ist eine wichtige Stütze für die Beantwortung der Frage ihrer Verallgemeinerungsf?higkeit. 6
) Siehe dazu ausführlich: S. Kalss/B. Lurger, 'Zu einer Systematik der Rücktrittsrechte - insbesondere im Verbraucherrecht', ?sterreichische Juristische Bl?tter 1998, 89 ff. (Teil 1 - Teil 2 erscheint in den Juristischen Bl?ttern M?rz 1998).